Das Bundeskabinett hat am 04.09.2024 eine umfassende Novelle des Baugesetzbuches beschlossen.
Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende des Jahres abgeschlossen sein. Die Änderungen könnten also bereits Anfang 2025 in Kraft treten. Teil der Novelle ist auch § 246e BauGB. In diesen neuen Paragraphen zur Förderung des Wohnungsbaus werden große Hoffnungen gesetzt. Gleichzeitig wird er aber auch stark kritisiert.
Nachfolgend werden die Funktionen und die Voraussetzungen des neuen „Werkzeugs“ beleuchtet. Anschließend wird dargelegt, warum § 246e BauGB eine kleine Revolution des Bauplanungsrechts darstellt und warum diese Revolution aus Sicht des Autors zu begrüßen ist.
1. Was kann mit § 246e BauGB erreicht werden?
Liegen die Voraussetzungen des § 246e BauGB vor, so kann „von den Vorschriften dieses Gesetzbuchs oder den aufgrund dieses Gesetzbuchs erlassenen Vorschriften […] abgewichen werden“.
Nach dem Wortlaut des § 246e BauGB kann mit diesem also jede Regelung des BauGB umgangen werden. Gleiches gilt für alle Satzungen oder Verordnungen, die auf Grundlage des BauGB erlassen wurden. Auf den ersten Blick handelt es sich somit um eine weitreichende „Brechstange“, mit der alle planungsrechtlichen Regelungen ausgehebelt werden können.
Bei genauerer Betrachtung zielt der Gesetzgeber jedoch auf folgende Konstellationen ab:
Für die Schaffung zusätzlicher Wohnungen müsste eigentlich ein Bebauungsplan aufgestellt oder geändert werden, insbesondere weil die bisherige Situation die planungsrechtliche Art der Nutzung „Wohnen“ nicht zulässt. Mit § 246e BauGB soll es in diesen Fällen ausnahmsweise gestattet werden, auf den Erlass oder die Änderung eines Bebauungsplanes zu verzichten.
2. Welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit § 246e BauGB zur Anwendung kommen kann?
Folgende Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit eine Abweichung nach § 246e BauGB gewährt werden kann:
2.1. Das Baugrundstück muss in einem Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt liegen
Das Baugrundstück muss in einem Bereich liegen, welcher durch eine Rechtsverordnung nach § 201a BauGB zu einem „Gebiet mit angespanntem Wohnungsmarkt“ bestimmt wurde. Fehlt es an einer solchen Verordnung, ist § 246e BauGB nicht anwendbar.
In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass bereits erlassene Verordnungen zur Festsetzung angespannter Wohnungsmärkte nicht ergänzt werden müssen. Für Berlin würde das bedeuten, dass § 246e BauGB im gesamten Stadtgebiet angewandt werden könnte, sobald er in Kraft tritt.
2.2. Die Entscheidung über die Abweichung muss vor dem 31.12.2027 ergehen
Die Vorschrift ist zeitlich befristet. Sollte der Gesetzgeber keine Verlängerung beschließen, dürfen nach dem 31.12.2027 keine Abweichungen mehr nach § 246e BauGB erlassen werden.
Vorher ergangene Abweichungen bleiben auch über den 31.12.2027 hinaus wirksam.
2.3 Abweichungen nach § 246e BauGB dürfen nur für die folgenden Arten von Vorhaben erteilt werden:
- die Errichtung eines zu Wohnzwecken dienenden Gebäudes mit mindestens sechs Wohnungen,
- die Erweiterung, Änderung oder Erneuerung eines zulässigerweise errichteten, zu Wohnzwecken dienenden Gebäudes, wenn hierdurch neue Wohnungen geschaffen werden oder vorhandener Wohnraum wieder nutzbar wird, oder
- die Nutzungsänderung einer zulässigerweise errichteten baulichen Anlage für Wohnzwecke, einschließlich einer erforderlichen Änderung oder Erneuerung.
Auch wenn in der Gesetzesbegründung teilweise von „Wohngebäuden“ gesprochen wird, sprechen die besseren Argumente (= Wortlaut und Sinn und Zweck der Regelung) dafür, dass auch ein Gebäude mit einem gewerblich genutzten Teil (z.B. im EG) noch insgesamt „Wohnzwecken dient“. Dies gilt zumindest dann, wenn der klare Schwerpunkt der Nutzung auf dem Wohnen liegt.
Man wird zudem davon ausgehen können, dass auch Vorhaben mit mehreren Gebäuden zugelassen werden können. Der Wortlaut des Gesetzes zielt zwar jeweils auf „ein Gebäude“ ab. Es ist jedoch nicht ersichtlich, warum der § 246e BauGB nicht mehrfach auf nebeneinander geplante Gebäude angewandt werden sollte. Hierfür spricht auch, dass § 246e BauGB selbst darauf verweist, dass Vorhaben mit einer Grundfläche von mehr als 100.000 m² einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen (vgl. unter Ziff. 2.8). Der Gesetzgeber geht also davon aus, dass § 246e BauGB auch auf Quartiersentwicklungen Anwendung finden kann.
2.4. Die Entscheidung über die Abweichung muss mit Zustimmung der Gemeinden ergehen
Die Bauaufsicht muss die Zustimmung der Gemeinde einholen. Eine Umgehung der zuständigen Gemeinde ist nicht möglich. Dies soll die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wahren. Da § 246e BauGB weitreichende Abweichungen von Bebauungsplänen zulässt, wird in die verfassungsrechtlich geschützte Planungshoheit der Gemeinden eingegriffen. Eine Ersetzung der Zustimmung ist daher konsequenterweise auch nicht vorgesehen.
Die Zustimmeng der Gemeinde gilt allerdings als erteilt, wenn die Gemeinde nicht innerhalb von zwei Monaten auf das Ersuchen der Baugenehmigungsbehörde reagiert.
In Berlin wird die Zustimmung (wie auch schon bei § 36 BauGB) entbehrlich sein, da es neben der Stadt Berlin selbst keine weitere Rechtsperson gibt, die zustimmen könnte.
2.5. Die Abweichung muss unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein
Die Bauaufsichtsbehörde hat sowohl die nachbarlichen Interessen zu würdigen, als auch zu prüfen, ob die Abweichung mit öffentlichen Belangen vereinbar ist.
Im Zentrum der Prüfung werden hier folgende Fragen stehen:
- Ist das Vorhaben den Nachbarn zumutbar?
- Sind für die künftigen Bewohner des Vorhabens gesunde Wohnverhältnisse gegeben?
- Wird in die Natur in einem unverhältnismäßigen Maß eingegriffen bzw. werden erfolgende Eingriffe ausgeglichen?
Wie tief diese Prüfung zu erfolgen hat und wann genau eine Unvereinbarkeit mit den Interessen der Nachbarn oder öffentlichen Belangen gegeben ist, wird sich in der Praxis zeigen müssen. Vieles spricht dafür, dass insbesondere die Anforderungen an die Prüfungstiefe unterhalb jener liegen müssen, die in einem Bebauungsplanverfahren angesetzt werden. Ansonsten wäre das mit dem § 246e BauGB verfolgte Ziel (= Beschleunigung) kaum zu erreichen.
2.6 Die Abweichung darf nur „im erforderlichem Umfang“ erfolgen
Liegen die übrigen Voraussetzungen vor, so darf „in erforderlichem Umfang“ von den Vorgaben des BauGB und der auf Grundlage des BauGB erlassenen Verordnungen und Satzungen abgewichen werden. Laut der Gesetzesbegründung soll diese Beschränkung dazu beitragen, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt wird.
Es ist jedoch nicht klar erkennbar, was genau „erforderlich“ sein muss:
§ 246e BauGB kann ohnehin nur dort zur Anwendung kommen, wo ein „angespannter Wohnungsmarkt“ per Verordnung festgestellt wurde (vgl. Ziff. 2.1.). Der Bau von Wohnungen dürfte also denklogisch so lange „erforderlich“ sein, bis die entsprechende Verordnung aufgehoben wird.
Es ist auch bereits dafür Sorge getragen, dass das Vorhaben nur in dem „erforderlichem Umfang“ in Rechte der Nachbarn oder z.B. in die Natur eingreift. Die Abweichung muss schließlich „unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar“ sein (vgl. Ziff. 2.5).
Es ist auch bereits sichergestellt, dass § 246e BauGB nur Anwendung findet, wenn dies wirklich „erforderlich“ ist, weil kein anderes Instrument des BauGB zur Verfügung steht. Kann das Vorhaben bereits über eine „klassische“ Befreiung oder Ausnahme gestattet werden, so gehen diese Regelungen als „leges specialis“ der weit gefassten Regelung des § 246e BauGB vor.
Die zusätzliche Anforderung der Erforderlichkeit erscheint bei näherer Betrachtung also gar nicht erforderlich zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob die Gerichte diesen Prüfungspunkt mit eigenem Leben füllen werden oder ob der Grundgedanke der Erforderlichkeit eher im Rahmen der übrigen Prüfungspunkte mit beachtet werden wird.
2.7 Sonderprüfpunkt für Abweichungen von § 35 BauGB
Im Außenbereich dürfen Abweichungen nur für solche Vorhaben erteilt werden, die „im räumlichen Zusammenhang“ zu einem in Zusammenhang bebauten Ortsteil (sogenannter „Innenbereich“) oder einer Fläche stehen, für die bereits ein Bebauungsplan in Kraft getreten ist.
In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass es allein auf die räumliche Nähe des Vorhabens zum Innenbreich oder zum beplanten Bereich ankommt. Es können daher auch Vorhaben gestattet werden, die selbst gänzlich im Außenbereich liegen. Es muss sich aber immer um die Erweiterung einer bereits bestehenden Siedlung handeln.
2.8. Verhältnis zum Bundesnaturschutzgesetz/Erfordernis einer Umweltverträglichskeitsprüfung
Bei diesen beiden Punkten handelt es sich streng genommen nicht um Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung, sondern um Klarstellungen zum Verhältnis zu umweltrechtlichen Vorschriften. Der Vollständigkeit halber sei aber auch dies kurz dargestellt:
- § 18 Abs. 2 – 4 Bundesnaturschutzgesetz bleiben anwendbar. Dies bedeutet, dass die üblichen Regelungen zum Verhältnis zwischen dem BauGB und dem BNatSchG gelten. Im Außenbereich bleiben die Vorschriften des BauGB zum Eingriff (und Ausgleich) in Natur und Landschaft also auch dann anwendbar, wenn das Vorhaben über § 246e BauGB zugelassen wird.
- Für Vorhaben im Außenbereich mit einer Grundfläche von 20.000 m² bis weniger als 100.000 m² ist eine allgemeine UVP-Vorprüfung, für Vorhaben mir einer Grundfläche über 100.000 m² eine UVP-Prüfung erforderlich.
Eine Umgehung der zentralen umweltrechtlichen Vorschriften wird daher durch § 246e BauGB nicht möglich sein.
3. Fazit
Der geplante § 246e BauGB stellt eine kleine Revolution des Bauplanungsrechts dar. Erstmals soll es möglich sein, auf den Erlass oder die Änderung eines Bebauungsplans zu verzichten, obwohl eindeutig ein Planbedürfnis besteht. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten könnte dies dazu führen, dass für neue Wohnbauvorhaben grundsätzlich auf Bebauungspläne verzichtet werden wird.
Aufgrund dieses Bruchs mit den althergebrachten Grundsätzen des Planungsrechts, wurde der Entwurf des § 246e BauGB teilweise stark kritisiert. Es wurde zudem die Befürchtung geäußert, dass der Umwelt- und Naturschutz im Rahmen des § 246e BauGB nicht hinreichend Berücksichtigung finden wird. Die im Geetzgebungsverfahren abgegebenen Stellungnahmen sind hier abrufbar: https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/gesetzgebungsverfahren/Webs/BMWSB/DE/E-Gesetz-befristete-Sonderregelung-wohnungsbau.html
Teilweise wird auch bezweifelt, ob § 246e BauGB überhaupt eine Wirkung entfalten wird, da die Kommunen aufgrund der Unsicherheiten von einer Anwendung zurückschrecken könnten. Vgl. etwa: https://www.iz.de/meinung/news/-der-turbo-ist-augenwischerei-2000028182
Nach Ansicht des Autors ist die Einführung des § 246e BauGB jedoch sehr zu begrüßen:
Derzeit besteht bei vielen Grundstücken, die sich besonders für den Wohnungsbau eignen würden, die Erforderlichkeit, einen Bebauungsplan aufzustellen oder zu ändern. So können z.B. nicht genutzte Gewerbegebiete nicht ohne ein Bebaungsplanverfahren für das Wohnen nutzbar gemacht werden. Gleiches gilt auch für viele große Brachflächen in der Innenstadt (Sichwort: „Außenbereich im Innenbereich“).
Es ist jedoch ein offenes Geheimnis, dass gerade in den Ballungszentren die Schaffung von Wohnraum durch die Aufstellung von Bebauungsplänen faktisch kaum noch sinnvoll möglich ist. Da gibt es nichts schönzureden. Die Bebauungsplanverfahren sind kompliziert und kleinteilig. Die plangebenden Stellen verfügen oft nicht über ausreichend Personal, um diese Verfahren zügig voranzutreiben. Aus diese Gründen dauert der Erlass eines Bebauungsplans selten unter drei Jahren. Vier (oder mehr) Jahre sind keine Seltenheit. Eine Baugenehmigung muss dann noch beantragt werden. Da der Beschluss des Bebauungsplanes immer auch eine politische Entscheidung ist, auf die kein einklagbarer Anspruch besteht, bleibt bis zum Beschluss des Bebauungsplans eine Unsicherheit für den Vorhabenträger (und dessen finanzierende Bank) bestehen.
Darüber hinaus haben die Verwaltungsgerichte gerade im vergangenen Jahrzehnt sehr hohe Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Bebauungsplänen gestellt. Dies führt immer wieder dazu, dass Bebauungspläne nach langjährigen Gerichtsverfahren aufgehoben werden. Nicht selten steht der Vorhabenträger dann sechs (oder mehr) Jahre nach Beginn des Bebauungspanverfahrens wieder ohne Plan da. Es beginnt der Versuch der Heilung des Planes, die wieder mehrere Jahre dauern kann.
Wenn man also ernsthaft das Ziel verfolgt, schnell neue Wohnungen zu ermöglichen, so muss mit der „Brechstange“ an dieses Systhem herangegangen werden. Das derzeit existierende System ist dafür schlicht und einfach nicht geeignet.
Die Baugenehmigungsbehörden und die Gemeinden sollten mutig an das neue Werkzeug herangehen. Gleichzeitig gilt es den § 246e BauGB verantwortungsvoll zu nutzen. Insbesondere bei größeren Bauvorhaben erscheint es insoweit realistisch, dass eine Art „Bebauungsplanverfahren light“ entwickelt werden wird. So ist es sicherlich sinnvoll, zumindest eine informelle Beteiligung der Öffentlichkeit und der betroffenen Behörden durchzuführen. Auch die Einholung von Schall-, Verkehrs- und Umweltgutachten kann angezeigt sein.
Teilweise wird die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den öffentlichen Belangen auch über einen städtebaulichen Vertrag hergestellt werden müssen. Es wird weiterhin Ausgleich für Eingriffe in Natur und Umwelt zu schaffen oder zu leisten sein. Auch die Pflicht zur Errichtung von Sozialwohnungen oder die Übernahme für Vorhabenfolgekosten könnten im Einzelfall gerechtfertigt sein.
Es wird die Aufgabe der Vorhabenträger sein, hier selbst dafür zu sorgen, dass eine Bewertung der öffentlichen Belange durch entsprechende Stellungnahmen und Gutachten ermöglicht wird. Die gegebenenfalls vorhandenen Bedenken und Berührungsängste der Behörden werden durch gute fachliche Vorarbeit ausräumt werden müssen.
Sicherlich werden also nicht plötzlich neue Wohnquartiere über Nacht genehmigt werden. Aber warum sollte es eigentlich nicht möglich sein, ein Vorhaben innerhalb von einem Jahr zu genehmigen, wenn Behörde, Vorhabenträger und Fachgutachter gut zusammenarbeiten? Diese Frage sollten sich die Kritiker des § 246e BauGB stellen. Warum eigentlich nicht?
In diesem Sinne: ¡Viva la revolución!