Die extensive Anwendung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 25 Abs. 3 VwVfG in der Berliner Verwaltungspraxis

Vor dem Hintergrund der Proteste rund um „Stuttgart 21“ hat der Gesetzgeber bereits im Jahr 2013 § 25 VwVfG um den Absatz 3 ergänzt. Durch die Durchführung von frühen Öffentlichkeitsbeteiligungen soll die Akzeptanz von Großprojekten verbessert werden. In Berlin sehen sich nun vermehrt Bauherren mit der Forderung konfrontiert, auch bei „normalen“ Bauprojekten eine solche frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen.

1. Hintergrund

Seit Bestehen der Bundesrepublik ist es im Vorfeld der Durchführung von Großvorhaben immer wieder zu erheblichen Protesten gekommen.

Prominentestes Beispiel sind die Proteste rund um das Verkehrs- und Städtebauprojekt „Stuttgart 21“. Wie bei anderen Großvorhaben mit weitreichenden Auswirkun-gen bestand auch hier ein wesentlicher Teil der Kritik darin, dass der Öffentlichkeit keine Möglichkeit eröffnet wurde, bereits vor Antragstellung zu dem Projekt Stellung zu nehmen und so auf dieses einzuwirken. Wichtige Themen, wie etwa die Bestimmung möglicher Standortalternativen, waren so einem gesellschaftlichen Diskurs entzogen.

2. Schaffung des § 25 Abs. 3 S. 1 VwVfG

Der Gesetzgeber hat auf den so empfundenen Missstand reagiert, indem bereits im Jahr 2013 durch das Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren (PlVereinhG)[1] § 25 VwVfG um den Absatz 3 ergänzt wurde.

Dieser regelt, dass die Behörden darauf hinwirken, dass bei der Planung von Vorhaben, die nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Dritten haben können, der Vorhabenträger die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig – möglichst noch vor Stellung eines Antrags – über die Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens unterrichtet. Der betroffenen Öffentlichkeit soll dann Gelegenheit zur Äußerung und zur Erörterung gegeben und das Ergebnis der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung der betroffenen Öffentlichkeit und der Behörde spätestens mit der Antragstellung, im Übrigen unverzüglich, mitgeteilt werden.

So soll Transparenz in Bezug auf das geplante Vorhaben geschaffen werden. Außerdem soll der Vorhabenträger die Möglichkeit erhalten, Einwände und Anregungen aus der Bevölkerung, von Trägern öffentlicher Belange und etwaigen sonstigen künftigen Beteiligten noch vor einer förmlichen Antrags- oder Planeinreichung in seiner Planung zu berücksichtigen. Insgesamt soll so die Akzeptanz des Vorhabens und der mit diesem verbundenen Genehmigungs- und Planfeststellungsentscheidungen gefördert werden.[2]

Entsprechend heißt es in der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 25 Abs. 3 VwVfG:

„Voraussetzung für die Anwendung der Vorschrift ist die Planung eines Vorhabens, das nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf eine größere Zahl von Dritten haben wird. Dies trifft zum Beispiel regelmäßig, aber nicht immer, auf planfeststellungspflichtige Infrastrukturvorhaben zu. Die Anwendung ist nicht auf diese regelmäßig raumbedeutsamen Vorhaben beschränkt, sondern weit gefasst. Die Voraussetzungen von Satz 1 können deshalb auch bei der geplanten Errichtung von Anlagen mit immissionsschutzrechtlicher Genehmigungs-pflicht vorliegen“[3].

Der Sinn und Zweck der Regelung ist somit ganz offensichtlich die Information und die Förderung des Austauschs über „Großprojekte“, deren Auswirkungen mehr als nur lokal sind bzw. sein können[4], weil sie entweder sehr raumgreifend sind (planfeststellungspflichtige Infrastrukturvorhaben) oder ein nicht nur lokales Gefahrenpotential mit sich bringen (immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtige Vorhaben).

Den sachlichen Anwendungsbereich von § 25 Abs. 3 VwVfG könnte man damit auf die Formel „sehr groß oder sehr gefährlich“ zusammenfassen.

Zu betonen ist dabei, dass die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung stets nur fakultativ ist[5], d.h., die Behörde kann den Vorhabenträger nicht dazu zwingen oder den Fortgang des Verfahrens davon abhängig machen.

3. Anwendung durch die Bezirksämter

Von den Berliner Bezirksämtern wird § 25 Abs. 3 VwVfG sehr weit ausgelegt und auf „gewöhnliche“ Bauvorhaben angewandt. Dabei wird auf die Freiwilligkeit der Durchführung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung oftmals nicht hingewiesen.

Einen besonders deutlichen Niederschlag hat dies in den von mehreren Bezirksämtern herausgegebenen Merkblättern zu § 25 Abs. 3 VwVfG gefunden.

Beispielhaft soll hierzu das Merkblatt von  Friedrichshain-Kreuzberg betrachtet werden.

Einen ausdrücklichen, für juristische Laien verständlichen Hinweis darauf, dass es sich bei § 25 Abs. 3 VwVfG um ein rein fakultatives Verfahren handelt, sucht man in dem Merkblatt vergeblich. Vielmehr ist bereits die einleitende Passage, in der § 25 Abs. 3 VwVfG beschrieben wird, so formuliert, dass leicht der Eindruck entstehen kann, es handele sich um ein zwingend durchzuführendes Verfahren. Wörtlich heißt es:

Im Sommer 2013 ist die Änderung des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG § 25 Abs. 3) in Kraft getreten. Darin wird bestimmt, dass der Bauherr bei größeren Bauvorhaben eine frühe Bürgerbeteiligung durchführt, mit der er die betroffene Öffentlichkeit über die Ziele und dessen voraussichtliche Auswirkungen informiert. Dies soll möglichst schon vor der AntragsteIlung erfolgen“ (Hervh. d.d. Verf.).

Im Folgenden wird im Merkblatt ausgeführt, was im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg unter einem „größeren Bauvorhaben“ verstanden wird. Ein solches soll vorliegen, wenn eines oder mehrere der folgenden Kriterien erfüllt sind:

  1. Vorhaben größer 750 m2 BGF
  2. Vorhabengrundstück ist nicht unmittelbar als Baugrundstück erkennbar
  3. Vorhaben mit mehr als 50 Stellplätzen
  4. Vorhaben, bei denen bei vorhandenem Baumbestand eine Fällgenehmigung erforderlich ist.

Als Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben und des gesetzgeberischen Willens sind diese Kriterien ungeeignet.

Die Kriterien 2 und 4 lassen keinerlei Rückschluss auf die Größe des Vorhabens und noch wichtiger die Zahl der Betroffenen sowie die Art und Intensität der Auswirkungen zu. Vielmehr würde die konsequente Anwendung von Kriterium 4 dazu führen, dass eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung anzustreben wäre, wenn für das Vorhaben auch nur ein einziger durch die Baumschutzverordnung geschützter Baum gefällt werden muss.

Die in den Kriterien 1 und 3 genannten Schwellen wiederum sind so niedrig angesetzt, dass sie in ihrem Anwendungsbereich weit über das hinausgehen, was gesetzgeberisch intendiert war.

Auch die praktische Anwendung von § 25 Abs. 3 VwVfG durch die Bezirksämter stellt keineswegs weniger extensiv dar, als es die Merkblätter vermuten lassen.

So kommt die Norm z.B. regelmäßig im Rahmen von Baugenehmigungsverfahren in Bezug auf die Errichtung oder Sanierung von Mehrfamilienhäusern zur Anwendung. Das „Hinwirken“ der Behörden auf die Durchführung einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung besteht dabei meist darin, ähnlich wie bereits in den Merkblättern, den fakultativen Charakter der Norm zu verschleiern, indem z.B. im Rahmen von Nachforderungen zum Bauantrag das „Ergebnis der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung“ verlangt wird.

4. Notwendige Reduzierung des Anwendungsbereichs

Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs von § 25 Abs. 3 VwVfG widerspricht sowohl dem Wortlaut als auch Sinn und Zweck der Norm und ist daher zu ändern.

Die Errichtung eines Mehrfamilienhauses, eines etwas größeren Parkplatzes oder auch die Fällung einzelner Bäume stellen – weder für sich betrachtet noch kumulativ – ein „Stuttgart 21-Projekt“ dar. Auch fehlt es bei einfachen Bauprojekten regelmäßig an Gestaltungsoptionen wie z.B. alternativen Standorten. Der Bauherr kann in diesen Fällen keine Anpassung des Projekts aufgrund von im Rahmen der Öffentlichkeitsbeteiligung vorgebrachter Kritik vornehmen. Das Verfahren läuft diesbezüglich also ins Leere.

Auch ist es, selbst wenn dem jeweiligen Bauherrn – meist nach anwaltlicher Beratung – bekannt ist, dass die Durchführung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung fakultativ ist, keineswegs harmlos, dass dies in Fällen gefordert wird, in denen § 25 Abs. 3 VwVfG nicht einschlägig ist.

Ein mit dieser Forderung konfrontierter Bauherr sieht sich vor eine äußerst schwierige Wahl gestellt. Entweder führt er ein aufwendiges, teureres und ggf. langwieriges Beteiligungsverfahren durch, das nicht zuletzt auch regelmäßig querulatorische Einwände provoziert. Oder er läuft Gefahr, das Baugenehmigungsverfahren dadurch zu belasten, dass er die Durchführung der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung ablehnt und damit die Behörde zu „verprellen“.

5. Fazit

Die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung gemäß § 25 Abs. 3 VwVfG stellt ein Instrument zur Schaffung von Akzeptanz und Transparenz bei Großprojekten dar. Ziel ist es, die betroffene Öffentlichkeit von vornherein in den Genehmigungsprozess einzubinden, ohne sie dabei vor „vollendete Tatsachen“ zu stellen. So wichtig dieses Vorgehen für echte Großprojekte auch sein mag, so schädlich ist es für gewöhnliche Bauvorhaben, die einen lokalen, eng gezogenen Kreis in ihrer Wirkung nicht überschreiten. Der erklärte Trend der Gesetzgebung geht hin zu einer Verschlankung des Baurechts. Umso unverständlicher ist es, dass der Anwendungsbereich des § 25 Abs. 3 VwVfG durch die Berliner Genehmigungsbehörden extensiv ausgedehnt wird. Die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung wurde für die beschriebenen Bauprojekte schlichtweg nicht geschaffen und stellt insofern lediglich eine weitere nicht unerhebliche Organisationshürde dar, die der Bauherr zu nehmen hat. Es bleibt zu hoffen, dass sich diesbezüglich bald eine Trendwende einstellt. Bis dahin kann den betroffenen Bauherren „normaler“ Bauvorhaben, die sich gegen die Forderung, eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung durchzuführen, wehren möchten, nur geraten werden, die Bezirksämter freundlich aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass § 25 Abs. 3 VwVfG für derartige Vorhaben nicht gedacht ist und es sich außerdem um ein freiwilliges Verfahren handelt.


[1] Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungs-verfahren (PlVereinhG) vom 31.5.2013, BGBl I S. 1388
[2] Vgl. Stelkens/Bonk/Sachs/Kallerhoff/Fellenberg, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 25 Rn. 65 m.w.N).
[3] BT-Drs. 17/9666, S. 17
[4] Vgl. Herrmann in BeckOK VwVfG, Bader/Ronellenfitsch, 59. Edition, Stand: 01.04.2023, § 25 VwVfG, Rn. 23
[5] Vgl. Schoch/Schneider/Schneider, 3. EL August 2022, VwVfG § 25 Rn. 69)

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Nicolas Savoie Rechtsanwalt savoie@knauthe.com
  • Öffentliches Baurecht, Behörden und Verwaltung
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