Künftig höhere Bebauungsdichte im Westen Berlins durch Unwirksamkeit der Geschossflächenzahl-Festsetzung des Baunutzungsplans von 1960?

Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.09.2020 (OVG 2 B 10.17) zur teilweisen Unwirksamkeit des Baunutzungsplans 1960 für Gebiet in Berlin-Neukölln

Schon lange wird unter Juristen über die Frage gestritten, ob der alte Baunutzungsplan von 1960, ein ursprünglich für ganz Berlin angedachter Bebauungsplan, der für ganz West-Berlin gilt, mittlerweile hinsichtlich vieler Festsetzungen funktionslos und somit unwirksam geworden ist. Nun hat das OVG Berlin-Brandenburg am 15.09.2020 entschieden, dass die Maßfestsetzung zur Geschossflächenzahl (GFZ) von 1,5 im Baunutzungsplan für ein allgemeines Wohngebiet in Berlin-Neukölln unwirksam ist.

Im zugrunde liegenden Fall hatte die Klägerin beabsichtigt, das Dachgeschoss eines Wohngebäudes zu Wohnzwecken auszubauen. Im Bestand betrug die GFZ für das in Rede stehende Wohngebäude bereits 3,91 (!). Der alte Baunutzungsplan lässt dort nur eine GFZ von 1,5 zu. Die Klägerin begehrte die Erteilung einer Befreiung vom Baunutzungsplan für die Überschreitung der festgesetzten GFZ von 1,5 auf 4,52 nach § 31 Abs. 2 BauGB. Die Beklagte hatte diese Befreiung versagt. Die Klägerin ging hiergegen gerichtlich vor und begehrte nun die Feststellung, dass eine Befreiung von der GFZ Festsetzung des Baunutzungsplans nicht (mehr) erforderlich sei, da diese für das Baugrundstück unwirksam geworden sei.

Das Verwaltungsgericht Berlin und das OVG Berlin-Brandenburg haben im Sinne der Klägerin entschieden. Die GFZ Festsetzung des Baunutzungsplans im betrachteten allgemeinen Wohngebiet könne auf unabsehbare Zeit nicht mehr realisiert werden. Die städtebauliche Entwicklung habe diese geringe Maßfestsetzung überholt. Sowohl die Städtebaupolitik des Bezirks, als auch die Wohnungsnot in Berlin und die gewandelten Vorstellungen der Bevölkerung zur städtebaulichen Entwicklung der Innenstadt sprechen gegen die noch mögliche Umsetzung der geringen GFZ Festsetzung von 1,5. Gelebt werde eine großzügige Gestattung von Nachverdichtungen/Dachgeschossausbauten durch das Bauamt in Neukölln, die die Überschreitung der festgesetzten GFZ von 1,5 offenkundig werden lassen. Eine Rückkehr zu einer geringeren Verdichtung des Baugebiets sei ausgeschlossen.

Dabei hat das OVG zudem die jahrelange Rechtsprechung aufgegeben, wonach für die Frage der Unwirksamkeit der Maßfestsetzung der GFZ nur auf den räumlichen Bereich des Baublocks/das Straßengeviert abzustellen war. Neuerdings ist nun das gesamte Baugebiet einer Baustufe in den Blick zu nehmen (hier: allgemeines Wohngebiet, Baustufe V/3). Dennoch betont das Gericht die stets erforderliche Einzelfallprüfung. Es gibt keine allgemeinverbindliche Formel, wann der Baunutzungsplan unwirksam wird.

Was bedeutet diese Entscheidung nun für die Praxis?

Der Baunutzungsplan ist ein alter Bebauungsplan, der für ganz West-Berlin gilt, soweit nicht aktuellere Bebauungspläne für Teilbereiche erlassen worden sind, die die Festsetzungen des Baunutzungsplans ablösen. Der Baunutzungsplan ist allerdings für viele Grundstücke West-Berlins noch in Kraft. Die geringen Maßfestsetzungen zu GRZ, GFZ, der Anzahl der Vollgeschosse und Baumassezahl ermöglichen selten die Bebauung, die sich Bauherren heutzutage (berechtigterweise) wünschen. In der Folge müssen viele Befreiungen von dem Baunutzungsplan beantragt werden, man ist auf eine gute Abstimmung mit dem Bau- und Stadtplanungsamt angewiesen.

Das Gericht zeigt auf, dass die Gültigkeit des veralteten und für moderne Städtebaupolitik nicht mehr geeigneten Baunutzungsplans aus dem Jahr 1960 nicht „in Stein gemeißelt“ ist. Es werden nochmals die Kriterien bestätigt, die eine Unwirksamkeit der geringen Maßfestsetzungen (GFZ, GRZ, Vollgeschossanzahl, Baumassezahl) des Baunutzungsplans begründen. Diese können im Einzelfall herangezogen werden, um die Unwirksamkeit einzelner Maßfestsetzungen zu prüfen und um eine der Umgebung angemessene Bebauung zu ermöglichen. Durch die Erweiterung des räumlich zu betrachtenden Umkreises besteht eine größere Chance, die Unwirksamkeit des Baunutzungsplans im Einzelfall zu begründen. Es ist davon auszugehen, dass die Unwirksamkeit einzelner Maßfestsetzungen des Baunutzungsplans nun auch für weitere Baugebiete Berlins festgestellt werden wird. Darüber hinaus bietet das Signal des Gerichts zur Unwirksamkeit des Baunutzungsplans auch Anlass, die ebenfalls häufig überholten Festsetzungen zur Nutzungsart (Wohnen, Gewerbe, etc) im Einzelfall anzuzweifeln und überprüfen zu lassen. Denn auch die seit Jahren gelebten Nutzungen in den einzelnen Baugebieten entsprechen längst nicht mehr den früheren Festsetzungen des Baunutzungsplans.

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Anna-Maria Dahlke Rechtsanwältin dahlke@knauthe.com
  • Öffentliches Baurecht, Behörden und Verwaltung
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